Sport & Digitalisierung: Immersive Erlebnisse an der Schnittstelle von Spiel, Bewegung und Technologie
Dr. Anna Lisa Martin-Niedecken ist Professorin für Design Science mit einem Schwerpunkt auf Gesundheitsthemen an der Zürcher Hochschule der Künste, wo sie das Institut für Designforschung und das Digital Health Design Living Lab leitet. In diesem Kontext beschäftigt sie sich auch mit der Verbindung von Sport und Digitalisierung. Als Expertin ihres Fachgebietes erforscht sie die Verschmelzung von beidem – und treibt sie mit eigenen Projekten voran. Zudem gründete sie 2018, herauskommend aus ihrer Forschung zu diesem Thema, das Startup Sphery. Im ASVZ-Vortrag «Sport & Digitalisierung» gab Anna Lisa Martin-Niedecken spannende Einblicke in ihr Arbeitsfeld und zeigte auf, wie sich Sport und Gaming in der Realität immer mehr verbinden.
«Von den über acht Milliarden Menschen weltweit sind knapp die Hälfte als Gamer und Gamerinnen aktiv, aber nur rund 1,5 Milliarden betätigen sich körperlich in ausreichendem Mass», stellt Anna Lisa Martin-Niedecken zu Beginn ihres Referates fest. Die körperlich Aktiven und Sporttreibenden seien – verglichen mit den Menschen, die sich in der digitalen Welt mit vermeintlich statischen Spielen vergnügen – deutlich in der Unterzahl. Ist die Natur des Menschen also mehr die des Spielers, des «Homo Ludens», und damit – wenn digital - implizit ungesund, weil mehrheitlich statisch? Oder hat die seit Jahren fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft auch einen positiven Einfluss auf die Art und Weise, wie wir uns Technologien im Sport – aber auch im Spiel – zunutze machen?
Um auf die Thematik einzustimmen, präsentierte die Sportwissenschafterin Martin-Niedecken eine kurze Retrospektive der bekannten Technologieanwendungen im Sport. Darin führte sie das Plenum von allgegenwärtigen, digitalen Helfern wie Kopfhörern, Pulsmessern und Smartwatches über Augmented Reality-Brillen (AR) mit dem virtuellen Trainingspartner «Ghost Pacer» bis hin zu E-Sportarten mit Virtual Reality (VR) -Anwendungen wie Tennis E-Sports. Über die Mixed Reality-Sports wie Indoor-Golfsimulatoren in dafür mit einer Projektion bespielten Boxen (Cages) führte Martin-Niedecken die Zuhörerinnen und Zuhörer zur Einsicht: Die Verschmelzung der technologischen Hilfsmittel und der realen Sportwelt ist heute längst in verschiedensten Ausführungen Realität, wie sie sagte: «Unter dem Begriff Extended Reality-Training verstehen wir heute die Schnittstelle zwischen Spiel, Sport, Bewegung und immersiven Technologien.»
Die Betrachtungen der verschiedenen Entwicklungsstufen führte die Referentin zur beinahe philosophischen Fragestellung, wieviel der Immersion von Sport und Technologie für den Menschen noch gut ist, und wieviel zu viel sei? Eine Antwort lieferten die folgenden Ausführungen zum Thema von Spiel-Elementen und -Design (Gamification/Gaming). «Die Gamification ist eigentlich nichts anderes, als spielerische Elemente zu nutzen in einem nicht-spielerischen Kontext. Serious Games hingegen verbinden Gaming mit einem Zweck über den reinen Spielspass hinaus.» Als anschauliche Beispiele dafür nannte Anna Lisa Martin-Niedecken verschiedene, sogenannte ernste Spiele (Serious Games) für den Gesundheitsbereich: Meditationserfahrungen mit VR-Unterstützung oder edukative Computerprogramme für Krebspatienten, um ihre Krankheit besser zu verstehen.
Die einstimmenden Erläuterungen zu Gaming und Sport führten dann zum Thema über, in welchem alle Fachgebiete von Martin-Niedecken zusammenfliessen – den sogenannten Exergames (Exercise & Gaming). Ihre Anschauungsbeispiele reichten hier von der Nintendo-Spielkonsole für die Bewegung daheim über die VR-Fitness des Gruppenfitnessanbieters Les Mills bis hin zur spielbasierten Rehabilitation für Schlaganfallpatienten. «In meiner wissenschaftlichen Arbeit stellte ich mir immer wieder die Frage, wie wir es idealerweise schaffen können, das Beste aus beiden Welten – Sport und Gaming – zu vereinigen.»
In mehr als zehn Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit gelang es Anna Lisa Martin-Niedecken und ihrem Team, die potenziellen Effekte von Exergames auf den Menschen herauszuarbeiten. Über verschiedene Zwischenstufen resultierten aus der interdisziplinären Forschungsarbeit verschiedenste Prototypen und Anwendungen – etwas für die pädiatrische Bewegungsrehabilitation mittels Gangroboter, motorisch-kognitives Training für Multiple Sklerose-Patienten und -Patientinnen – und schliesslich ein fertiges Produkt: Der ExerCube. «Mit unserem 2018 als Spin-off der ZHdK gegründeten Unternehmen Sphery AG haben wir mit dem ExerCube eine innovative Kombination aus Soft- und Hardware für immersive Trainingserlebnisse für ganz unterschiedliche Zielgruppen und Anwendungsbereiche auf den Markt gebracht, die alle unsere Erkenntnisse in sich vereint.» Der ExerCube ist zusammengefasst ein Fitness- und Trainingsgerät in der Grösse von rund drei auf drei Metern. Verschiedene Programme spielen je nach Einsatzbereich im ExerCube auf seinen drei Wänden Game-Projektionen und Sounds ab, während Sensoren an Händen und Füssen dazu dienen, die Bewegungseingaben der Nutzenden bei der Ausübung ihres Trainingsprogammes direkt ins Spiel zu übertragen und Feedback zu geben.
Nach einer kurzen Übungsrunde, in der die Anwesenden am eigenen Körper ein Gefühl für die Nutzung und Anwendungsmöglichkeiten des ExerCube erhielten, zeigte Anna Lisa Martin-Niedecken eindrückliche Studienresultate der Anwendungspraxis ihres Trainingsgerätes auf. Bei Nachwuchsathletinnen und -athleten eingesetzt, hatte der ExerCube positive Effekte auf die kognitiven Fähigkeiten, wie die geteilte Aufmerksamkeit und kognitive Flexibilität. Der Einsatz in einem Seniorenheim führte zu deutlich erhöhtem Wohlbefinden und Sicherheit im Alltag der Pensionäre und Pensionärinnen. Und Profi-Snowboarder David Hablützel absolvierte im ExerCube eine mehrwöchige Reha-Phase mit Erfolg.
In der Konklusion ihrer Präsentation führte die Referentin ihre Erkenntnisse zusammen und wagte einen Ausblick in die Zukunft. Ihre anfangs gemachte Feststellung, dass der Einfluss von digitalen und anderen Technologien durchaus eine positive Auswirkung und Nutzen auf und für den Sport haben könnte, belegte sie mit dem anschaulichen Beispiel des ExerCubes: «Extended Reality Technologien und immersive Trainingserlebnisse bieten im Sport und der Bewegungsförderung – wenn sie richtig gestaltet wurden – innovative und motivierende Zugänge zu körperlicher Aktivität, ermöglichen die Inklusion verschiedenster Nutzer:innengruppen, lassen sich mit entsprechender Programmierung individualisieren und verstärken nachweislich die Trainingsmotivation und schlussendlich die Trainingsergebnisse.» Entsprechend positiv blickte Anna Lisa Martin-Niedecken zum Abschluss ihrer Präsentation in die Zukunft: «Wenn wir es schaffen, dass mehr Menschen durch diese Entwicklungen einen Zugang zu körperlicher Aktivität und Sport finden, dann haben wir mit unserer Arbeit ein wichtiges Ziel erreicht.»
Text: Thomas Borowski
Bild: Mina Monsef